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Letzte Änderung am 22.12.2025 um 16:12 MEZ
Autor: Max Klimm (TU Berlin)
Projekt: AA3-18 Evolutionsprozesse für Populationen und ökonomische Akteure
Aufgabe
Der Weihnachtsmann fährt bekanntlich einen Schlitten, der von zwei Rentieren gezogen wird, die zufällig aus einer großen Population am Nordpol ausgewählt werden. Jedes für den Schlitten eingeteilte Rentier gehört zu einer von zwei Arten: Entweder zieht es den Schlitten kräftig oder nur schwach. Wenn beide Rentiere kräftig ziehen, fliegt der Schlitten anmutig über den Himmel, alle sind zufrieden, und beide Rentiere erhalten jeweils 4 Haufen Heu als Belohnung. Wenn ein Rentier kräftig zieht, während das andere nur schwach zieht, fliegt der Schlitten zwar weiterhin gut, aber es ist sehr anstrengend für das kräftig ziehende Rentier, das anschließend zu erschöpft ist, um zu fressen, und daher kein Heu erhält, während das schwach ziehende Rentier 5 Haufen Heu bekommt. Wenn beide Rentiere schwach ziehen, bewegt sich der Schlitten nur sehr langsam, der Weihnachtsmann ist unzufrieden, und beide Rentiere erhalten lediglich die Mindestmenge von jeweils einem Haufen Heu.
Wir möchten verstehen, wie sich der Anteil der kräftig ziehenden Rentiere in der Population entwickelt, und verwenden dafür die sogenannte Replikatordynamik.
Bezeichnen wir den Anteil kräftig ziehender Rentiere zum Zeitpunkt t mit x(t), so ist ein zufällig ausgewähltes Rentier zum Zeitpunkt t mit Wahrscheinlichkeit x(t) kräftig ziehend und mit Wahrscheinlichkeit 1-x(t) schwach ziehend.
Mit dieser Beobachtung kann man leicht berechnen, dass ein kräftig ziehendes Rentier im Erwartungswert
f_\text{k}(t) = 4 x(t) + 0 (1- x(t))
Haufen Heu erhält, wenn es zum Zeitpunkt t zum Ziehen eingeteilt ist. Eine ähnliche Gleichung erhält man für die Funktion f_\text{s}(t), die die erwartete Heumenge eines schwach ziehenden eingeteilten Rentiers beschreibt.
Die zentrale Annahme der Replikatordynamik ist, dass der Anstieg des Anteils eines Rentiertyps proportional zur Anzahl an Heuhaufen ist, die ein Rentier dieses Typs beim Dienst am Schlitten mehr bzw. weniger erhält als ein durchschnittliches Rentier in der Population. Genauer gilt für die momentane Änderungsrate x'(t) (siehe Bemerkung 2) des Anteils der kräftig ziehenden Rentiere zum Zeitpunkt t die Gleichung
x'(t) = x(t) \biggl( f_\text{k}(t) - \bigl(x(t)f_\text{k}(t) + (1-x(t))f_\text{s}(t)\bigr)\biggr).
Welche der folgenden Aussagen ist wahr? (Die Bemerkungen zählen nicht zu den Aussagen.)
Bemerkung 1: Für einen gegebenen Zeitpunkt t_0 und einem Wert c gibt es genau eine Funktion x(t), die sowohl x(t_0)=c als auch die obige Gleichung erfüllt.
Bemerkung 2: Die momentane Änderungsrate (auch Ableitung genannt), kann wie folgt interpretiert werden:
- Wenn x^\prime(t)=0 zu jedem Zeitpunkt t in einem Intervall gilt, dann ist x(t) in diesem Intervall konstant.
- Wenn x^\prime(t)>0, existiert ein Zeitintervall um t, in dem x(t) zunimmt.
- Wenn x^\prime(t)<0, existiert analog ein Zeitintervall um t, in dem x(t) abnimmt.
Für eine lineare Funktion f(t)=at+b ist zu jedem Zeitpunkt t die momentane Änderungsrate f'(t) gleich a, also gleich dem Anstieg der Funktion.
Antwortmöglichkeiten
- Die Formel für die erwartete Anzahl an Heuhaufen, die ein schwach ziehendes Rentier zum Zeitpunkt t erhält, wenn es zum Schlittenziehen eingeteilt ist, lautet
f_{\text{s}}(t) = 5\cdot (1-x(t)) + 1 \cdot x(t).
- Wenn zum Zeitpunkt 0 alle Rentiere kräftig ziehend sind, wird es zu einem Zeitpunkt t der Fall sein, dass nicht mehr alle Rentiere kräftig ziehend sind.
- Wenn zum Zeitpunkt 0 alle Rentiere schwach ziehend sind, wird dieser Zustand für immer bestehen bleiben.
- Wenn zum Zeitpunkt 0 ein Gleichgewicht zwischen kräftig ziehenden und schwach ziehenden Rentieren besteht, also x(0)=1/2 gilt, bleibt dies für immer so.
- Der Anteil der kräftig ziehenden Rentiere zum Zeitpunkt 1 ist immer derselbe, unabhängig davon, wie groß der anfängliche
Anteil kräftig ziehender Rentiere zum Zeitpunkt 0 ist. - Für einige anfängliche Anteile kräftig ziehender Rentiere zum Zeitpunkt 0 steigt der Anteil der kräftig ziehenden Rentiere über einen gewissen Zeitraum.
- Der Weihnachtsmann kann einen Anteil x(0) kräftig ziehender Rentiere zum Zeitpunkt 0 mit 0 \leq x(0)\leq 1/2 wählen, sodass der Anteil kräftig ziehender Rentiere für alle Zeiten über 1/4 liegt.
- Angenommen, der Weihnachtsmann ändert seine Fütterungsverhalten so, dass jedes Rentier doppelt so viel Heu wie zuvor erhält. Dies beeinflusst die Dynamik des Anteils nicht, unabhängig vom anfänglichen Anteil zum Zeitpunkt 0.
- Angenommen, der Weihnachtsmann ändert sein Fütterungsverhalten so, dass jedes Rentier einen zusätzlichen Heuhaufen erhält. Dies beeinflusst die Dynamik des Anteils für einige anfängliche Anteile.
- Angenommen, der Weihnachtsmann ändert sein Fütterungsverhalten so, dass jedes Rentier immer genau einen Heuhaufen erhält, unabhängig von der Zugleistung. Dann werden für alle Anfangsanteile zum Zeitpunkt 0 nach einiger Zeit alle Rentiere schwach ziehend sein.
Projektbezug
Die Replikatordynamik ist ein Beispiel für eine Fragestellung, die im Bereich der evolutionären Spieltheorie untersucht wird. Wir interessieren uns im Projekt AA3-18 für mathematische Prozesse, die beschreiben, wie sich sowohl verschiedene Genotypen als auch unterschiedliche ökonomische Verhaltensmuster im Laufe der Zeit herausbilden. Dieses Forschungsfeld, in dem ähnliche mathematische Modelle verwendet werden, um scheinbar unabhängige Prozesse in den zwei voneinander getrennten Anwendungsbereichen Biologie und Ökonomie zu beschreiben, ist ein gutes Beispiel für die Fähigkeit der Mathematik, ein allgemeines Verständnis grundlegender Prozesse zu liefern, die je nach Anwendung völlig unterschiedliche Interpretationen haben können.
Letzte Änderung am 22.12.2025 um 16:12 MEZ